Demokratisierung der Demokratie


erschienen in: Neues Deutschland. 02.03.2011

Er hat zu kollektivem Schwarzfahren aufgerufen und zur Besetzung von Banken: Der Berliner Politologe Peter Grottian schreckt vor Zivilem Ungehorsam nicht zurück. Die 600 Menschen, die am vergangenen Sonntag ins Stuttgarter Gewerkschaftshaus gekommen sind, offenbar auch nicht. »Dieser erste Demokratiekongress in Stuttgart ist ein Anfang für eine wirkliche Demokratiebewegung von unten«, erklärt Grottian und wird lautstark beklatscht. Sie kennen sich von den Montagsdemos gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21. Manche sind gemeinsam bei attac aktiv, andere waren vor 20 Jahren in der SPD. Es sind Menschen, die auf Ostermärsche gehen und Anfang der achtziger Jahre verhindern wollten, dass in Mutlangen Pershing-Raketen stationiert werden. Einer meint, er habe schon mit Fischer Steine geworfen. Alle sagen, Stuttgart 21 habe sie aufgeweckt. Viele sind kaum jünger, einige sogar älter als der inzwischen 68-jährige Peter Grottian.

Der frühere Gymnasiallehrer Bernd Stolz ist 74. Er sagt von sich selbst, er sei einer der berüchtigten Rentner, die Ministerpräsident Stefan Mappus abfällig Berufsdemonstranten nennt. Anfangs ging es ihm um den Bahnhof, inzwischen um weitaus mehr. »Mit Stuttgart 21 wurden die Machenschaften der Regierung aufgedeckt. Ich lebe seit 50 Jahren in Stuttgart. Noch nie habe ich so hautnah erlebt, wie wir betrogen werden.« Dass sich in Baden- Württemberg mit der Landtagswahl in drei Wochen etwas ändern wird, glaubt Stolz genauso wenig wie Grottian: »Sie kennen Orwells Farm der Tiere? So läuft das.«

Der erste Demokratiekongress in Stuttgart soll Anstoß für eine öffentliche, bundesweite Debatte sein. Denn Stuttgart macht trotz allem Mut. »Wo immer ich rumreise, viele Initiativen beziehen sich auf Stuttgart und schöpfen daraus Kräfte«, erzählt Grottian. Und: Skandale wie Stuttgart 21 führen unweigerlich zu Debatten über den Demokratienotstand. Davon ist Mike Nagler von attac überzeugt. Bundesweit sinkende Wahlbeteiligungen, der Rückzug der Menschen aus den politischen Parteien und die gewachsene Bereitschaft zum Protest: All das seien Zeichen für eine Krise. »Und in allen Protestbewegungen, die entstehen, gibt es die Forderung nach Transparenz, direkterer Beteiligung und Gemeinwohlorientierung.« Die Entfremdung zwischen Politik und Bürgern wächst. Nach einer Forsa-Umfrage aus dem vergangenen Jahr bezweifeln 79 Prozent der Bürger, dass ihre Interessen von der repräsentativen Demokratie ausreichend berücksichtigt werden. »Wir müssen den Leuten erst einmal klar machen, dass sie der Souverän sind. Aber der Boden ist da.«

Viele sehen in mehr direkter Mitbestimmung einen Ausweg. Nico Nissen vom Verein »Mehr Demokratie« ist überzeugt, dass es Volksentscheide als Korrektiv zur repräsentativen Demokratie braucht. Doch in Baden-Württemberg gab es noch nie einen Antrag auf ein Volksbegehren, der anerkannt wurde. Die gesetzlichen Hürden sind deutlich höher als in anderen Bundesländern. »Aber es ist ein neues Demokratiebewusstsein in der Stadt erwacht«, meint Nissen und verweist auf 13 000 Unterschriften für mehr direkte Demokratie in Baden-Württemberg, die sein Verein bereits zusammen hat.

Zur Bundestagswahl 2013 ist eine Kampagne für bundesweite Volksentscheide zu ganz konkreten Fragestellungen wie Mindestlohn oder Auslandseinsätze der Bundeswehr geplant. »Die Gegner sagen, wir würden damit die repräsentative Demokratie gefährden«, sagt Nissen. "Aber sehen Sie sich Mappus’ Wahlkreis in Pforzheim an. 2006 haben ihn nur zwanzig Prozent der Wahlberechtigten gewählt, und er hat seinen Wahlkreis gewonnen. Ist das etwa repräsentativ?«

Peter Grottian ist überzeugt, dass Ziviler Ungehorsam der Motor für Veränderung und Modernisierungsprozesse ist. Der Tritt auf die Zehen sei zu wenig. Da müsse es schon ans Schienbein gehen, meint Grottian und fordert am Sonntag die versammelten Stuttgart 21-Gegner auf, die Proteste auszuweiten: »Es gibt eine Menge Leute in der Republik, die zu euch stoßen werden. Die Bereitschaft ist da, wie bei Wyhl und Wackersdorf.«

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